Ich sitze in der vierten Reihe und verfolge interessiert das Gespräch zwischen einem der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und einem der bekanntesten deutschen Kunsthistoriker:

Andreas Gursky & Udo Kittelmann

Frech und unterhaltsam, informativ und unkonventionell. Ein wunderbares Duo, in dem die Rollen zuweilen wechseln: Ruhig und besonnen der Künstler, extrovertiert und humorvoll unangepasst der Kunsthistoriker.

Mein Blick durch die Reihen bliebt an der vordersten Reihe hängen, in der scheinbar Helmut Schmidt ein Gemälde betrachtet. Ich sehe ihn von hinten, unverkennbar: der Zigarettenrauch. Fast eine Illusion: Die vorderste Stuhlreihe ist lediglich eine „Bildreihe“: Das Werk „Rückblick“ wurde zur Ausstellungseröffnung am 3. Oktober erstmals gezeigt und zeigt alle bis vor zwei Tagen noch lebenden Bundeskanzler auf Stühlen sitzend vor einem großen roten Barnett Newman-Gemälde. Inszeniert und fotografiert von Andreas Gursky. Unverkennbare Zitate aus der Kunstgeschichte, unzweifelhaft Kunst und eben keine politische Werbung.

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Der Flyer zur Ausstellung zeigt ein Hochhaus im Pariser Viertel Montparnasse – wenn man dicht davor steht. In einiger Entfernung wirkt es wie ein abstraktes symmetrisch strukturiertes Werk. Das ist typisch für die großformatigen Fotografien von Andreas Gursky: Aus der Nähe zeigen sie anderes als aus der Entfernung. Direkt vor den Werken erkenne ich riesige Detailmengen. Aus der Entfernung nur Abstraktes, Form und Farbe. Die Details der Börse von Chicago, des Madonna-Konzerts und des Billig-Supermarktes lösen sich in einiger Entfernung in harmonische Kompositionen auf.

Das wünsche ich mir für meinen Schreibtisch:

Mit zunehmendem Abstand formen sich die zahlreichen Vertriebsideen, Exzerpte und Aufgaben zu einem formvollendeten Gesamtkunstwerk – ohne weiteres Dazutun!

Aber das geht natürlich nicht. Wenn ich nicht arbeite, passiert auch nichts. Oder doch?

Doch! Genauso ist es. Gerade wenn der Schreibtisch überquellt und man vor lauter Papier und Mails das eigentlich Ziel seiner heutigen Arbeit aus den Augen verliert, lohnt sich ein Schritt zurück. Oder zwei. Oder auch mal drei.

Nur so setzen wir Prioritäten. Nur so entstehen neue Ideen.

Denn ohne Prioritäten geht es nicht mehr.

Wer noch an To-Do-Listen glaubt …

… und daran, alle abarbeiten zu können, verkennt eine Tatsache: Was nie oberste Priorität ist, wird nie erledigt. Und da heutzutage neue Aufgaben schneller entstehen als alte erledigt werden können, wird ein großer Teil schlichtweg ignoriert. In diesem Zustand ist unsere persönliche Innovationskraft gleich null. Denn für das effiziente Abarbeiten ist unsere linke Gehirnhälfte zuständig – und die ist äußerst unbegabt, wenn es um das Ersinnen noch nie dagewesener Lösungsansätze geht. Treten wir ein paar Schritte zurück, und geben uns den Raum für neue Ideen.

Denn ohne Ideen geht es nicht mehr.

Wer noch daran glaubt, erfolgreich zu bleiben, indem er …

… sein Erfolgsmodell immer effizienter gestaltet, verkennt disruptive Innovationen. So wie Kodak. 1888 kam die erste Rollfilmkamera auf den Markt, durch die Fotografie für ein großes Publikum zugänglich wurde. 2012 meldete Kodak Insolvenz an und verabschiedete sich aus dem Foto-Markt. Sie hatten den Anschluss an die Digitalfotografie verpasst. Die gefährlichen Konkurrenten sind nicht die, die das Bestehende noch etwas besser oder günstiger anbieten. Gefährlich sind die Unternehmen, die so innovativ sind, dass ganze Geschäftsmodelle wegbrechen. Wikipedia ersetzt bändeweise Enzyklopädien (außer in der wissenschaftlichen Arbeit, aber dafür gibt es schließlich Bibliotheken). Smartphones ersetzen Telefonzellen, Fotoapparate, Taschenrechner, Adressbücher, Fotoalben, Notizblöcke, Diktiergeräte, Straßenkarten. Die digitale Spiegelreflexkamera ersetzt die Rollfilmkamera, bei der man nach dem Urlaub eine Woche warten musste, bis man seine Fotos sehen konnte.

Andreas Gurskys Kunst-Fotografien wären ohne digitale Fotografie und Nachbearbeitung nicht möglich. So wie zahlreiche Gemälde Claude Monets nicht möglich wären ohne die Erfindung der Farbtube. Denn die Farbtube ermöglichte ihm, draußen in der Natur zu malen und die verändernden Lichtverhältnisse beim Anblick von Getreideschobern, Pappeln etc. einzufangen und auf die Leinwand zu bannen. Nur bei Monet ist es andersherum als bei Gursky: Wenn ich dicht vor dem Gemälde stehe, erkenne ich nur Farbe in verschiedenen Nuancen. Erst mit einigem Abstand erkenne ich das Motiv. Bei Barnett Newman muss ich hingegen so dicht vor dem Gemälde stehen, dass ich mich in ihm verliere. Jeder Teil meines Blickfeldes muss Bild zeigen, das war die beabsichtigte und durchaus meditative Wirkung. Zen im Museum. Deshalb sitzen die vier in der ersten Reihe auch genau richtig.

So ist das mit der Kunst. Sie erinnert und verwirrt. Sie bewegt und belehrt. Sie unterhält und mahnt. Und vor allem: Sie stellt jedem Betrachter zu jedem Zeitpunkt andere Fragen. Während der Lesung fragte ich mich: Was muss ich tun, damit ich wie Helmut Schmidt in vielen vielen Jahren auf ein sinnvolles und erfülltes Leben blicken kann. Dass ich wie Andreas Gursky mit der Überzeugung „Das wird schon gutgehen“ in 20 Jahren sehe: Es ist gutgegangen. Sehr gut sogar.  Eine Woche später frage ich anders: Wird dieses Hochhaus im Pariser Viertel Montparnasse, das Andreas Gursky 1993 meisterhaft fotografiert hat, auch bald zur grauenhaften Kulisse?

Angesichts der aktuellen Berichterstattung wünsche ich mir die abstrahierende Ordnung seiner Kunst in meinem Kopf.

Kunst mahnt, die Gegenwart ernst und zugleich heiter zu nehmen. Ernst, weil es immer nur diesen gegenwärtigen Moment gibt. Heiter, weil wir in ihm die ganze Schönheit erleben. Das geht nur, indem wir den Abstand immer wieder variieren: Den Abstand zur Arbeit. Den Abstand zum Leben.

Ich habe an diesem 12. November den für mich richtigen Abstand : Vor dem Künstlergespräch im Museum Frieder Burda durfte ich ein angenehmes, inspirierendes und zielführendes Gespräch mit einer tollen Frau führen. Danach verbrachte ich drei sehr entspannende Stunden im wunderbaren römisch-irischen Friedrichsbad in Baden-Baden. Mit Abgüssen bedeutender Skulpturen. Da kommen mir gleich Ideen … Das ist der Gewinn, wenn ich drei Schritte zurück trete. Neue Inspirationen, Zurechtrücken meiner Prioritäten. Und mehr Energie, wenn ich mich meinen Aufgaben am Schreibtisch widme – ganz im Detail.

Mich interessiert: Wie achten Sie auf den richtigen Abstand zur Arbeit? Welche Fragen stellen die Kunstwerke Ihnen?

Die Ausstellung „Andreas Gursky“ im Museum Frieder Burda in Baden-Baden ist bis zum 24. Januar 2016 zu sehen.