„Wenn Sie nicht geschickt genug sind, von einem Menschen, der sich aus dem Fenster stürzt, eine Skizze anzufertigen in der Zeit, die er benötigt, um vom vierten Stock aufs Pflaster zu fallen, so werden Ihnen die große Maschinen niemals gelingen.“

Effizienz ist unabdingbar für die Bewältigung der großen Projekte, daran hat sich seit Delacroix nichts geändert. Die „großen Maschinen“, das sind die großformatigen Aufträge wie Deckengemälde oder Wandgemälde. Sie entsprechen den Prestigeprojekten, die den wirtschaftlichen Erfolg vieler Unternehmen begründen. Dass für wirtschaftlichen Erfolg jedoch Effizienz und Kreativität die beiden Seiten einer Medaille sind, das wird in unserer arbeitsteiligen Welt zuweilen übersehen. Das kann katastrophale Folgen haben. Denn viele Unternehmen konzentrieren sich auf die Rentabilität. Dafür müssen die Menschen im Unternehmen schnell und effizient arbeiten und Prozesse und Strukturen schaffen, die Synergie- und Skalierungseffekte bewirken. Kodak, Nokia, Schlecker und Air Berlin hatten ziemlich effiziente Unternehmensabläufe. Doch das reichte offensichtlich nicht aus, um ihre Insolvenz zu verhindern.

Denn um in drei, zehn oder fünfzig Jahren noch als Unternehmen zu existieren, braucht es kreative und innovative Mitarbeiter. Doch beides scheint sich gegenseitig auszuschließen. Neurowissenschaftliche Studien belegen, dass effizientes und kreatives Arbeiten sogar in komplett unterschiedlichen Arealen unseres Gehirns erfolgt. Wir können also nicht gleichzeitig effizient und kreativ sein. Das hat zur Folge, dass Unternehmen nur einen Bruchteil des kreativen Potentials in ihrem Unternehmen nutzen – nämlich das derjenigen Mitarbeiter, die in den sogenannten kreativen Berufen arbeiten: ihre Abteilungen heißen Forschung und Entwicklung, Innovation, Werbung bzw. die englischsprachigen Äquivalente. Das kreative Potential all der anderen Mitarbeiter im Unternehmen hingegen bleibt ungenutzt. Das ist ein nicht ausgegrabener Schatz, der Unternehmen teuer zu stehen kommt. Denn je schneller Produktkreisläufe, Serienabfolgen und technische Innovationen einander ablösen, desto schwieriger wird es, effektiv zu arbeiten und die zahlreichen Alltagsaufgaben zu bewältigen, die die immer schnellere Veränderung mit sich bringt.

Doch wie lassen sich Effizienz und Innovation verbinden?

Eugène Delacroix ist hierfür geradezu ein Musterbeispiel. Sie kennen Delacroix nicht? Seien Sie unbesorgt, das ändert sich gerade. Der Maler, der zu den wichtigsten und bedeutendsten Künstlern Frankreichs gehört, fristet in Deutschland (noch) ein Schattendasein, und ich gestehe, dass auch ich sein Werk erst im Laufe meines Kunstgeschichtsstudiums kennenlernte. Warum also ist der Maler Delacroix für die Verbindung von Effizienz und Innovation ein so gutes Beispiel? Der obige Ratschlag Delacroix´ an einen jungen Maler zeigt dies eindrücklich. Stellen wir uns vor, Sie sehen aus Ihrem Bürofenster und erspähen einen Menschen, der gerade im Begriff ist, aus der vierten Etage zu springen. Trotz aller Bestürzung gilt es zu handeln:

  • Ihre Beobachtungsgabe ist gefragt. Die Voraussetzung, um überhaupt die Veränderungen um uns herum zu bemerken, ist, sich von Zeit zu Zeit aus der Tiefe seiner Aufgaben zu lösen, den Kopf zu wenden und die Umgebung mit all ihren sich dort ergebenden Veränderungen wahrzunehmen. Nur dann können Chancen und Gelegenheiten wahrgenommen werden.
  • Handeln Sie schnell. Auch wenn vieles seit dem 19. Jahrhundert schneller geworden ist, die Geschwindigkeit eines hinabstürzenden Menschen ist noch exakt die gleiche. Ich hole meinen Taschenrechner, google die Formel des freien Falls und komme zum Ergebnis, dass es bei einer angenommenen Geschosshöhe von 3,5 Metern ganze 1,69 Sekunden dauert, um auf die Straße zu fallen. Im Vergleich zu Delacroix´ Effizienzaufgabe wirkt die Erreichung des nächsten Meilensteins in so manchem Change-Projekt wie ein Slow-motion-Video.
  • Die gewünscht schnelle Reaktion funktioniert nur, wenn die Arbeitsmittel griffbereit sind – jederzeit! Um schnell reagieren zu können ist es also hilfreich, sich auf die wenigen Mittel zu konzentrieren, die man sehr gut beherrscht. Delacroix zeichnete solch´ schnelle Skizzen mit Bleistift oder Tusche in sein Skizzenbuch. Welche Medien beherrschen Sie am besten?
  • Sie müssen in Sekundenbruchteilen entscheiden, welche Szene dieses Vorgangs Sie festhalten wollen … Das setzt voraus, dass Sie sich bereits vorher darüber Gedanken gemacht haben und dieses oder ein ähnliches Szenario schnell abrufen können. Sie müssen also wissen, wie Sie die Kompetenzen und Alleinstellungsmerkmale Ihres Unternehmens, Ihrer Abteilung oder von Ihnen persönlich am besten in Szene setzen können und damit für den internen oder externen Kunden einen wirklichen Nutzen schaffen. Diese Entscheidung treffen Sie nicht jetzt, Sie haben sie im Kern bereits verinnerlicht und können Sie jederzeit abrufen, wenn die Gelegenheit günstig ist.
  • … und dies dann in wenigen Strichen auch tun. Ein Maler muss also sehr schnell zeichnen können, so die Aussage Delacroix´. Er darf nicht mehr überlegen müssen, sondern Auge und Hand müssen komplett aufeinander abgestimmt sein. Dies erfordert Übung, Übung, Übung. Delacroix bemerkte einmal, dass er so schnell zeichnen gelernt habe, als er, quasi als Bildberichterstatter, eine diplomatische Mission nach Marokko begleitete. Die Menschen vor Ort waren aufgrund ihrer arabischen Religion eher bilderfeindlich eingestellt. Er skizzierte sie dennoch – aber eben sehr schnell in wenigen Bleistift- oder Pinselstrichen.

Dass inmitten der effizient zu erledigenden Aufgabe keine Zeit für langwierige Kreativitäts-Sessions bleibt, ist offensichtlich. Das fand bereits vorher statt.

Wie schaffen es Unternehmen, dass sich mehr Mitarbeiter kreativ einbringen?

Die Herausforderung für Unternehmen besteht genau darin, Beobachtungsgabe, schnelles Handeln, griffbereite Arbeitsmittel und Expertise zu ermöglichen. Doch die Strukturen in vielen wirtschaftlich sehr erfolgreichen Unternehmen sind mehrheitlich auf Effizienz ausgerichtet – und nicht auf das schnelle Ergreifen von Chancen. Das Schlagwort hierfür lautet Agilität. Es gibt also zwei Möglichkeiten, diese Veränderung einzuleiten: Entweder die Unternehmen ändern top down ihre Strukturen, Prozesse und die Entscheidungsspielräume der Mitarbeiter und werden agiler. Oder Sie, die Sie das hier gerade lesen, beginnen bei sich selbst. Ja Sie!

Wie Sie mit künstlerischer Kompetenz mehr Kreativität in Ihren effizienten Beruf bringen, lesen Sie hier im zweiten Teil: Delacroix´ Serienprojekt: Wie die Effizienten kreativ werden.