Diesen Gedanken hatte ich beim Lesen eines Buches, in dem es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Dort steht: 

„Den größten Streit […] gibt es fast immer, wo sich […] die Kulturen und vielleicht auch die Menschen am ähnlichsten sind. Da wird um jede Promille Unterschied hart gerungen!“

Genau dieser Satz hat mich ins Grübeln gebracht. Denn in der Wirtschaft ist es Standard, die Unterschiede herauszuarbeiten. Wir nennen das Alleinstellungsmerkmal

Ich war verblüfft zu lesen, seit wann es den Begriff überhaupt gibt und wie er zum ersten Mal verwendet wurde: 

Al|lein|stel|lungs|merk|mal: Definition & Herkunft

Zum ersten Mal ist der Begriff Alleinstellungsmerkmal in der Politik gefallen. Der FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher hat ihn in den 1990er Jahren benutzt, als es um die Abgrenzung zur CDU und SPD ging. 

Der englische Begriff Unique Selling Proposition, oder kurz USP, bedeutet hingegen „einzigartiges Verkaufsangebot“. Es ist ein Fachbegriff der Werbebranche und wurde bereits in den 1940er Jahren eingeführt, um die eigenen Produkte vor denen der Konkurrenz hervorzuheben.

Wenn Alleinstellungsmerkmale Wandel verhindern

Wenn ich das Alleinstellungsmerkmal meines Produkts hervorhebe, will ich, dass Kunden mein Produkt kaufen – und nicht das der Konkurrenz. Das ist verständlich. Sportartikelhersteller wollen, dass ihre Turnschuhe gekauft werden. Chocolatiers wollen, dass ihre Schokolade gegessen wird. Und Versicherungen wollen mit ihren Produkten versichern. In Werbung und Verkauf liefern die Unternehmen den Kunden gleich die Argumente mit, warum ihr Produkt das bessere ist.

Alleinstellungsmerkmal kann die schnellste Lieferzeit sein. Der günstigste Preis. Das größte Unternehmen (verkaufte Produkte, Bilanzsumme, Anzahl der Mitarbeiter?). Es gibt viele Kriterien, und man findet für nahezu jedes Produkt in irgendeiner Kategorie ein Alleinstellungsmerkmal, das es positiv von vergleichbaren Produkten unterscheidet. 

Wenn es aber am meisten Streit zwischen denjenigen gibt, die am ähnlichsten sind, dann streiten ausgerechnet die miteinander, die eigentlich das gleiche wollen. Dann kämpfen wir genau gegen die, die im Großen und Ganzen die gleichen Ziele und Visionen haben wie wir selbst.

Wenn wir mit unserer Arbeit etwas bewegen wollen, brauchen wir keine Alleinstellungsmerkmale. Im Gegenteil, sie sind uns sogar hinderlich. Und zwar aus drei Gründen:

Erster Grund: Nicht Geld, sondern das Erfüllen von Bedürfnisse ist das Ziel jeder Organisation.

Was allen gemeinsam ist, die ihre Alleinstellungsmerkmale hervorheben: Es geht ihnen darum, mehr Produkte zu verkaufen, den Umsatz zu steigern und als Unternehmen zu wachsen. Es geht ums Geld. 

Doch geht es in unseren Unternehmen immer nur ums Geld? Wie gut, dass das nicht so ist. Geld ist eine wunderbare Erfindung, Geld ist ein Medium, aber nie das Unternehmensziel an sich. Kein Kunde kauft euer Produkt, damit Ihr Geld verdient. 

Immer geht es um die Erfüllung von Bedürfnissen: es geht um Sicherheit (Versicherungen, Feuerwehr, Anschnallgurte), Essen und Trinken (Landwirtschaft, Lebensmittelhandel, Restaurants), Gesundheit (Arztpraxis, Fitnessstudio, Krankenkasse), Mobilität (Auto, Bahn, Schuhe), Erkenntnis (Sachbuch, Museum, Erwachsenenbildung), Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Verein, Religion, facebook), und und und. 

Damit wir langfristig in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu erfüllen, benötigen wir natürlich Einnahmen, die höher sind als unsere Ausgaben. Dies gilt für jedes Unternehmen, jeden Verein und jedes Kloster. Deshalb hat der Benediktinermönch Anselm Grün nicht nur Theologie, sondern auch Betriebswirtschaftslehre studiert. 

Wenn aber die Wirtschaftlichkeit nur die Grundlage dafür ist, etwas Wichtigeres (=unser Ziel) zu erreichen, dann sollten wir nicht Geld dafür ausgeben, um uns von den Unternehmen abzuheben, die das gleiche Ziel haben wie wir. Dann können wir das Geld für vergleichende Werbung und Urheberrechtsklagen sparen – oder es besser investieren:

Könnten wir unsere Ressourcen an Know How, an Zeit, an Geld bündeln, um unsere Ziele gemeinsam leichter, schneller oder überhaupt zu erreichen?

Zweiter Grund: Es geht nicht ums Produkt, sondern um die Lösung, die es bietet.

Wenn wir unsere Alleinstellungsmerkmale formulieren, dann denken wir immer in den Kategorien unseres Produkts im Vergleich zu denen der Konkurrenten. 

Unseren Kunden geht es aber nicht um das Produkt. Es geht ihnen um die Lösung eines Problems, die Erfüllung eines Bedürfnisses. Wir tappen in die disruptive Falle, wenn wir stets um unser Produkt kreisen, aber nicht um seine Lösungsqualität. Dann überholen uns die, die eine ganz andere Lösung finden, die gar nicht in die Kategorie unseres Produkts passt. Es gibt einige Produkte, die ich heute nicht mehr brauche: Ein Walk-Man. Ein dunkelgrünes Telefon mit Wählscheibe. Weizen. Okay, das ist ein anderes Thema.

Anstatt zu überlegen, was unser Produkt von dem der Konkurrenz unterscheidet, könnten wir fragen:

Wie könnten nützlichere, schönere und ressourcenschonendere Lösungen aussehen, die mehr sind als Innovationen zu unserem Produkt?

Dritter Grund: Unsere Aufgaben sind zu groß, als dass wir sie alleine schaffen.

Noch nie gab es so viele Veränderungen auf einmal. Drei große Umwälzungen erleben wir zeitgleich, Richard David Precht hat dies im Podcast eindrücklich auf den Punkt gebracht:

  • Die digitale Revolution erleben wir täglich, wenn wir uns in neue Computersystem einarbeiten müssen, neue Anwendungsfelder künstlicher Intelligenz erproben, und unseren Eltern oder Großeltern erklären, wie ihr Smartphone seit dem letzten Update funktioniert. 
  • Die Verantwortung für unsere Erde wird zu einer der größten Herausforderungen unserer Generation. Wir sehen den Plastikmüll am Urlaubsstrand und am Waldweg vor unserer Haustüre, Überschwemmungen zerstören Gegenden ganz in der Nähe und Pandemien schränk(t)en unser alltägliches Leben drastisch ein.
  • Und dann die Verschiebung des politischen Mächtegleichgewichts. Die USA verlieren an Vormachtstellung, die asiatischen Länder gewinnen an Einfluss. Und wir dachten, in Europa würde es keinen Krieg mehr geben. 

Die Aufgaben sind zu groß, als dass wir sie als einzelne Organisation lösen. Wenn wir diesen großen Blick bewahren, dann wird uns klar: Keiner von uns will in einer Welt leben, in der auch nur eine dieser drei Umwälzungen entgleist. 

Gemeinsamkeitsmerkmale statt Alleinstellungsmerkmale

Aber wie schaffen wir es, dass die Kunden unsere Autos, unsere Turnschuhe, unsere Schokolade kaufen? 

Da fällt mir die Geschichte von Monet, Renoir und dem Beginn des Impressionismus ein.

Eigentlich waren die Maler Monet und Renoir Konkurrenten. Wenn ein Käufer ein impressionistisches Gemälde kaufen wollte, musste er sich entscheiden. Oder?

Doch Monet und Renoir konkurrierten nicht um ihre Kunden. Sie kooperierten. Denn es ging ihnen darum, dass die Kunst das zeigt, was zeitgemäß ist. Während die renommierten Maler im Paris der 1870er Jahre noch die Geburt der Venus (Cabanel) und römische Gladiatoren (Gerôme) malten, ging es den Impressionisten um das, was sie vor Ihren Augen sahen: die neuen Bahnhöfe im Dampf der Lokomotiven. Das bewegte Leben auf den Boulevards. Die Urlaubsorte am Meer. 

Monet, Renoir und die Impressionisten griffen die Motive und das Lebensgefühl der Gegenwart auf. Sie verbündeten sich und waren damit viel erfolgreicher:

  • Als ihre Werke von Pariser Salon – der offiziellen staatlichen Verkaufsausstellung – abgelehnt wurden, organisierten sie mit anderen Künstlern ihre eigene Ausstellung.
  • Sie arbeiteten mit den gleichen Galeristen, die ihre Gemälde an Kunden verkauften. 
  • Sie malten immer wieder das gleiche, manchmal saßen sie sogar zeitgleich vor dem gleichen Motiv. Waren ihre Gemälde damit identisch? Austauschbar? Beliebig? Natürlich nicht. Was die Gemälde unterscheidet, sind ihre etwas unterschiedlichen Prioritäten, ihr leicht versetzter Blickwinkel, ihre Art zu malen, kurzum, ihr persönlicher Stil. Manche Betrachter schätzen Renoir mehr, andere bevorzugen Monet. Beide konnten sehr gut von ihrer Kunst leben, beide hängen heute in den wichtigsten Kunstsammlungen der Welt.

Die Lösung der Maler war nicht, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die Lösung war, gemeinsam zu arbeiten, gemeinsam sichtbar zu sein, gemeinsam zu verkaufen. Sie bündelten ihre Energie, wurden als Gruppe so viel sichtbarer, und doch schuf jeder seine eigenen unverwechselbaren Gemälde.

Was wäre, wenn …

  • politische Parteien ihre Aufmerksamkeit nicht auf die oft kleinen Unterschiede legten, sondern auf die großen demokratischen Ziele? In der Notsituation zu Beginn der Covid-Pandemie hat dies einmal geklappt. Warum nicht auch bei Klimakrise, Kinder- und Altersarmut, und und und?
  • Was wäre, wenn sich Unternehmen gegenseitig dabei unterstützen, ihre Ziele zu erreichen? So wie der Niederländer Jos de Blok, der seine Konkurrenten im Pflegebereich kostenfrei berät, wie sie sich ebenfalls zeitsparender, kostengünstiger und mitarbeiterfreundlicher aufstellen – indem sie die Bedürfnisse der zu Pflegenden in den Mittelpunkt stellen? 
  • Was wäre, wenn Unternehmen kooperieren anstatt sich vor Gericht zu verklagen? So wie Thomas Edison, der die Glühbirne erfand – zeitgleich mit Joseph Swan. Sie fusionierten ihre Unternehmen zur Edison and Swan Electric Light Company, oder kurz: EDISWAN. Und nahmen von beiden das beste: den Glühfaden von Edison und das Design der Glaslampe von Swan.
  • Was wäre, wenn Religionen …

… Ach ja: Das Buch

Stichwort Religion. Das Buch, das mich ins Grübeln gebracht hat, heißt „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Der Kölner Orientalist und Friedenspreisträger Navid Kermani zeigt auf verblüffend einfache Weise, wie nah sich Christentum und Islam eigentlich sind. Das komplette Zitat lautet:

„Den größten Streit gab und gibt es fast immer, wo sich die Religionen genauso wie die Völker, die Kulturen und vielleicht auch die Menschen am ähnlichsten sind. Da wird um jede Promille Unterschied hart gerungen!“ Er schreibt aber auch: 

„Der Reichtum der Welt liegt in den Unterschieden. Aus dem Bemühen, anders zu sein als andere, entsteht Kultur: eigene Lieder, eigene Traditionen, eigene Religionen, eigene Speisen, eine eigene Literatur, überhaupt Identität. Abgrenzung ist ein hässliches Wort, dabei sind Grenzen nur dann blöd, wenn du sie nicht überschreiten darfst.“

Ringen wir nicht um dieses eine Promille, das uns unterscheidet. Denn dann verhindern unsere Alleinstelllungsmerkmale den Wandel, den wir mit unseren Unternehmenszielen bewirken wollten. Suchen wir Gemeinsamkeitsmerkmale, um zusammen etwas zu bewegen.

PS: Wenn Ihr euch dabei Unterstützung von außen wünscht: Sehr gerne inspiriere, moderiere oder trainiere ich euch, damit Ihr eure eigenen genialen Lösungen findet! Schickt mir einfach eine Mail.

Navid Kermani antwortet mit einer Postkarte, wenn man ihm schreibt. Schöne Geste.