Es ist eines der anschaulichsten Beispiele überhaupt! Denn Ideen gibt es viele, und immer wieder höre ich: „Diese Idee hatte ich schon vor Jahren, und jetzt gibt es das.“ Aber diese eine Idee hatte vorher wohl noch niemand:

Die Verhüllung des Pariser Triumphbogens

Wenn wir von der Verwirklichung unserer eigenen Idee erfahren, überkommt uns häufig eine Mischung aus Enttäuschung, Bedauern, aber auch Stolz. Alles drei zu Recht:

  • Stolz, dass wir ein Gespür für ein Bedürfnis hatten, das anscheinend mehr Menschen verspüren. Sonst gäbe es das ja jetzt nicht. Dies ist eine besonders wichtige Fähigkeit für jeden Entdecker und Erfinder, jede Unternehmerin und Künstlerin.
  • Die Enttäuschung ergibt sich aus der Entscheidung, die wir in Bezug auf unsere eigene Idee getroffen haben. Aus irgendeinem Grund hielten wir sie für nicht bedeutend genug, nicht zeitgemäß, zumindest nicht wichtig genug, um sie weiterzuverfolgen. Dass die Idee nun doch verwirklicht wurde, zeigt deutlich auf, dass wir uns getäuscht haben: nun sind wir ent-täuscht.
  • Bedauern ist das Gefühl, das dabei oft am längsten bleibt: es ist mit der Vorstellung verbunden, wie anders unser Leben verlaufen wäre, wenn wir damals dran geblieben wären an unserer Idee.

Ideen zu haben ist toll! Wir brauchen viele Ideen auf die zahlreichen ungelösten Fragen unserer Zeit.

Doch mit einer Idee allein ist es nicht getan.

Das zeigen uns alle Künstler, Forscher und Erfinder. Und besonders anschaulich zeigen das die Werke von Christo & Jeanne-Claude. Deshalb definierten sie ein Kunstwerk nicht als ein fertiges Objekt oder Ereignis.

Nicht das Objekt ist das Kunstwerk, sondern der Entstehungsprozess,

so Christo und Jeanne-Claude. Wenn wir an ihre Kunstwerke denken, an den verhüllten Reichstag in Berlin, The Gates in New York, die Floating Piers am Lago d´Iseo und all die anderen, dann erkennen wir recht schnell: Ideen allein reichen nicht.

Die Idee, den Triumphbogen zu verhüllen, hatten Christo und Jeanne-Claude 1961.

1961! Laut ihrer Definition ist das Kunstwerk nicht das fertige Projekt: hier also der verhüllte Triumphbogen, oder die exklusiven Fotos von Wolfgang Volz, die das Ergebnis sehr ästhetisch dokumentieren.

Christos und Jeanne-Claudes Kunstwerke sind der komplette Entstehungsprozess: Idee, Entwürfe und Zeichnungen, auch technische Berechnungen, baurechtliche Gutachten, Genehmigungen, und ganz wesentlich: Verhandlungsgespräche und Überzeugungsarbeit. Manche Projekte brauchten Jahre und Jahrzehnte bis zur Verwirklichung. Der Triumphbogen ganze 60 Jahre!
Doch alles Neue beginnt mit einer Idee.

Die Zeichnung führt zur Wirklichkeit.

Sagte Christo. Er hatte an der Akademie der schönen Künste in Sofia eine klassische Ausbildung absolviert und war ein brillanter Zeichner.

Ich mag es, wenn meine Hand zeichnet. Das erlaubt es mir, mein Denken zu entwickeln.

Als Team waren sie unschlagbar: Als hervorragende Organisatorin trug Jeanne-Claude einen wesentlichen Teil zum Kunstwerk bei. Auch die Frage der Finanzierung gehörte für die beiden Künstler notwendigerweise zum Entstehungsprozess und wurde damit Teil des Kunstwerks. „Unser Werk handelt von der Freiheit“, sagten sie, und so blieben sie auch finanziell unabhängig. All die Materialkosten für die Verhüllungen, die Planungskosten samt Gutachten und Genehmigungen, einmal sogar der Bau einer Brücke als Zufahrt für die erwarteten Besucher, kurzum: alles was zur Verwirklichung der Projekte notwendig war, finanzierten sie selbst durch den Verkauf von Christos Zeichnungen, die während des Entstehungsprozesses entstanden.

Mehr Projekte abgebrochen als fertiggestellt

Beeindruckend! Mehr als die Hälfte der geplanten Projekte liegen also unverwirklicht in der Schublade. Trotz allem Enthusiasmus. Bei der Diskussion im Deutschen Bundestag beharrte ein Politiker: „Sowas macht man einfach nicht!“ Es gibt sie immer, die Bedenkenträger, die Fantasielosen, diejenigen, die aus irgendeinem Grund dagegen sind. Manchmal zu Recht. Oft auch nur aufgrund mangelnder Offenheit oder Vorstellungskraft. „Sowas macht man einfach nicht!“ Ich stelle mir gerne vor, welche Ideen wohl im Laufe der Jahrtausende schon mit dieser kategorischen Pauschalaussage konfrontiert worden sind.

Doch Christo und Jeanne-Claude konnten auch zahlreiche ihrer Ideen umsetzen, und damit zeigen sie uns die wichtigste Zutat für die Verwirklichung von Ideen:

Beharrlichkeit

Sie glaubten an ihre Ideen, und wenn wir Christo und Jeanne-Claude in den kurzweiligen Arte-Dokumentationen zuhören, dann verwundert es mich, mit welcher Energie und Begeisterung beide für Ihre Kunst kämpfen, und wie gelassen Christo dennoch bleibt, selbst wenn Gegenwind Projekte behindert oder wirklicher Wind sie zerstört. Keinerlei Frustration, keinerlei Verbissenheit. Eher neugieriges Beobachten, wie der Prozess und damit das Kunstwerk weitergeht.

Wenn wir von Christo & Jeanne-Claude konkret lernen wollen, was es braucht, damit eine Idee Wirklichkeit wird, dann erscheinen mir zwei Fähigkeiten besonders wichtig:

  • Ideen zu visualisieren
  •  All die Menschen zu begeistern oder zumindest zu überzeugen, die für die Verwirklichung nötig sind

Christo betonte:

„Wenn Sie Ihr Werk nicht aus dem Studio hinausbringen, aus Ihrer Wohnung, dann existiert es nicht. Im Grunde existiert es nur, wenn es in der Wohnung von jemand anderem steht oder hängt, wo die Leute sich die Köpfe heiß reden können, wie scheußlich oder wie schön es ist.“ (TASCHEN 2021, S. 591)

Es ist also essentiell, unsere Ideen aus unserem Kopf und aus unserem Atelier-Studio-Büro-Haus rauszubringen und sie dem Urteil anderer zu stellen. Nur dann existiert unser Werk. Nur dann kann unsere Idee Wirklichkeit werden.

Wird das mit der Zeit leichter? Nein. Christo und Jeanne-Claude meinten sogar, es wurde mit jedem Projekt schwieriger. Aber sie hatten große Freude an diesem Teil ihrer Kunstwerke, der „Verhandeln“ heißt. Und ihre Kunstwerke wurden von mal zu mal bekannter, aufsehenerregender, beeindruckender.

Wenn wir unsere Ideen lieben, sollten wir auch das Verhandeln lieben lernen.

Das Eintreten für unsere Ideen. Das Abgelehntwerden und Weitermachen. Damit unsere Ideen zukünftig nicht nur vor unserem inneren Auge erscheinen, sondern auch in den Augen vieler anderer: als Realität. So wie der verhüllte Triumphbogen nun für jeden sichtbar ist.

Welche Ideen hast du? Welche sind es wert, dass du Lebenszeit in sie investierst? Welche Idee traust du dich zu zeigen, so dass andere Menschen sie scheußlich oder schön finden können?

Ich stelle mir vor, ich würde Christo und Jeanne-Claude auf einen Kaffee treffen und sie nach ihrem Rat fragen. Das hilft.

Die Zitate sind der wunderbaren XXL-Monografie aus dem Hause TASCHEN: Christo und Jeanne-Claude. Updated Edition entnommen, und wenn nichts anderes angegeben ist, der umfangreichen und inspirierenden Ausstellung im Musée Würth France Erstein.

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