„Das gab es noch nie!“ Täglich gibt es neue Zahlen zu Infizierten und Todesfällen. Während ich diesen Artikel schreibe, berichtet die Johns Hopkins University von 289.349 Toten und 4,2 Mio Infizierten weltweit.

Doch stimmt das? Gab es das noch nie?

Gehen wir von 2020 zurück ins Jahr …

1920: Spanische Grippe

Während der Spanischen Grippe sind über 50 Mio Menschen gestorben (die Schätzungen gehen bis zu 100 Mio). Das sind je nach Schätzung 3 bis 5 % der damaligen Weltbevölkerung. Wo stehen wir heute? Bei 289.349 Toten und 0,037% der Weltbevölkerung.

Picassos Freund, der Dichter Apollinaire, starb 1918 an der Spanischen Grippe. Gemeinsam waren sie 1911 unter Verdacht geraten, am Diebstahl der Mona Lisa aus dem Louvre beteiligt zu sein. Aber das ist eine andere Geschichte.

„Neben den furchtbaren Verlusten an Menschenleben und Manneskraft im Felde haben Entbehrungen, Unterernährung und die Folgen einer schweren Epidemie die Volkskraft zerrüttet“ – das stand im Ärzteblatt im Dezember 1918. Was steht heute im Ärzteblatt?

1832: Cholera

Die zweite Cholera-Welle forderte allein in Preußen 41.000 Todesopfer, die dritte Cholera-Welle kostete in Paris mehr als 140.000 Menschen das Leben, in der vierten Welle gab es in Italien 130.000 und in Preußen 115.000 Cholera-Tote. Wo stehen wir heute? Bei 289.349 Toten und 0,037% der Weltbevölkerung.

Auch damals trug man „ein Tuch vor dem Mund“. Einen bildhaften Eindruck vermittelt der deutsche Berichterstatter der Augsburger „Allgemeine Zeitung“ in Paris, Heinrich Heine:

„Eine Totenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben. Wenn ich in einen Salon trete, sind die Leute verwundert, mich noch in Paris zu sehen, da ich doch hier keine notwendigen Geschäfte habe. Die meisten Fremden, namentlich meine Landsleute, sind gleich abgereist.“ Aus: Französische Zustände, Artikel VI

Was steht heute in der Zeitung?

1348: Pest

An der Pest starb mehr als ein Viertel der Bevölkerung. In Italien waren es über ein Drittel, und besonders schlimm wütete die Pest in England, das erst im 18. Jahrhundert wieder Bevölkerungszahlen erreicht hatte wie vor Ausbruch der Pest vierhundert Jahre zuvor. In ganz Europa waren es wohl 23.840.000 Pest-Tote (eine Schätzung im Auftrag des Papstes Clemens VI., die realistisch sein dürfte). Wo stehen wir heute? Bei 289.349 Toten und 0,037% der Weltbevölkerung.

Agnolo di Tura berichtete über den Ausbruch der Pest in seiner Heimatstadt:

„Es war grausam und furchtbar, und ich weiß nicht, wo ich beginnen soll, um die Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit zu beschreiben. Es schien, als wäre fast jedermann vom Anblick des Leids gelähmt. […] Und ich, Agnolo di Tura, […] beerdigte meine fünf Kinder mit meinen eigenen Händen. Es starben so viele, dass alle glaubten, dies sei das Ende der Welt.“

Was steht heute im Amtsblatt?

Wir brauchen nicht weiter in die Vergangenheit zurückzugehen um zu erkennen: Doch, das gab es schon, und zwar viel, viel schlimmer!

Doch wie kommt es, dass wir eine weltweite Pandemie erleben, und die Folgen sind soviel weniger dramatisch als 1920, 1832 und 1348?

Es lag daran: Die Menschen waren in der Zwischenzeit kreativ!

  • Forscher waren kreativ und haben Medikamente, Impfstoffe und technische Hilfsmittel wie Beatmungsgeräte erfunden.
  • Politiker waren kreativ und haben ein Gesundheitssystem geschaffen, das jedem einzelnen in unserem Land eine hohe Grundversorgung garantiert.
  • Techniker und Informatiker waren kreativ und haben eine digitale Welt geschaffen, innerhalb der wir selbst aus der Quarantäne heraus mit Familie, Freunden und Kollegen kommunizieren können: live und in Farbe!

Nun stellt der Historiker und Professor der Stanford-University Walter Scheidel einen interessanten Zusammenhang zwischen großen Katastrophen und der Gleichheit innerhalb der Bevölkerung fest:

Die größten Pandemien
verringerten die Ungleichheit
in erheblichem Maße

… ebenso wie Kriege, Revolutionen und Staatsversagen.

Warum nimmt die Ungleichheit ab? Große Seuchen sorgen für eine „wirtschaftliche Nivellierung, indem sie das Verhältnis zwischen Ackerfläche und Anzahl der Arbeitskräfte veränderten: sie senkten den Wert des Bodens (der sich in Grundpreisen, Pachtzinsen und Preisen landwirtschaftlicher Erzeugnisse niederschlug) und erhöhten den Wert der Arbeit (in Form von höheren Reallöhnen und niedrigeren Pachtzinsen).“ Siehe S. 372.

Welche Schlüsse zieht der Historiker?

Welche Schlüsse ziehen Sie?

Weil die Menschen in der Vergangenheit nur durch große Katastrophen „gleicher“ wurden, sieht Walter Scheidel für die Zukunft wenig Chancen, dass sich die Ungleichheit der Welt verringert.

Während Kriege, Revolutionen und Staatsversagen mit derart hohen Verlusten zunehmend unwahrscheinlicher würden, wäre die Pandemie die einzigen Katastrophe, die uns wirklich zur Gefahr werden könnte. Das aber wünscht er sich und uns nicht, nicht einmal, um mehr Gleichheit zu erreichen.

Das war 2017, als sein Buch herauskam.

Walter Scheidel, Nach dem Krieg sind alle gleich. Eine Geschichte der Ungleichheit, Darmstadt 2018; Englische Erstausgabe: The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the twenty first Century, Princeton 2017.

Doch diese Schlussforderung ist fatal.
Sie vergisst eine wesentliche Eigenschaft des Menschen: DIE KREATIVITÄT!

  • Wer konnte sich eine Glühbirne vorstellen, als alle nur Kerzen und Gaslampen sahen?
  • Wer konnte sich ein Auto vorstellen, als alle nur Pferde und ihre staubigen Schuhe sahen?
  • Wer konnte sich eine E-Mail vorstellen, als alle nur Briefe und Postkutschen sahen?

Was wollen Sie sich vorstellen? Wie wollen wir diese Krise rückwirkend beurteilen?

Was wird zukünftig Realität sein, weil es sich einige wenige Menschen vorstellen konnten? Oder doch viele Menschen? Immer mehr?

Unsere Welt verändert sich immer schneller. Im Film „Zurück in die Zukunft“ sind die Menschen 1985 in der Fantasie der Filmemacher 2015 auf Skateboards geflogen. Genial! Aber sie haben sich Faxe geschickt! Dabei wurde bereits 1984 die erste E-Mail von USA nach Deutschland versandt. Hier gab es schon etwas, von dem sich kaum jemand vorstellen konnte, wie es unsere Welt verändert!

Nochmal meine Frage: Was wollen Sie sich vorstellen?

Walter Scheidel kann sich nicht vorstellen, nicht mit den Werkzeugen des Historikers, dass es mehr Gleichheit auf der Welt gibt ohne große Katastrophen. Ich habe auch Geschichte studiert. Aber Geschichte hat eine Besonderheit. Sie beschreibt nur, was wir anhand von Quellen über die Vergangenheit denken. Geschichte sagt allerdings reichlich wenig darüber aus, was in der Zukunft passiert. Und zuweilen führen andere Fragen zu komplett anderen Antworten.

Was aber, wenn wir daran glauben, auf friedlichem Weg die Ungleichheit in der Welt zu verringern?

So wie bei der ersten E-Mail, die es schon gab, als Menschen noch das Fax als das Medium der Zukunft hielten, so gibt es auch heute bereits Wege, die Ungleichheit zu verringern. Noch sind es kleine Merkmale, verglichen mit der großen Welt. So klein wie eine einzelne erste E-Mail in einem riesigen Rechenzentrum.

Aber es ist bereits Realität … für einige, für einige Zeit. Es ist eine soziale Innovation, die die Welt verändern könnte. Denken wir es weiter, stellen wir uns vor, was es mit uns, unserem Leben und dem der Menschen um uns herum machen würde:

Es ist bereits Realität: das bedingungslose Grundeinkommen

Dieses weltweit einzige nichtstaatliche Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen findet in Deutschland statt. Michael Bohmeyer hörte irgendwann auf, nur darüber nachzudenken und nachzulesen. Er wollte erfahren, was das bedingungslose Grundeinkommen mit den Menschen macht. Und gründete den Verein „Mein Grundeinkommen“. Aus Spenden werden jeweils zwölf Monate bedingungsloses Grundeinkommen verlost. Das Ergebnis ist verblüffend. Es geht weniger um das Geld selbst als um die Bedingungslosigkeit. Sie nennen es das Grundeinkommens-Gefühl. Bisher durften 587 Menschen diese grandiose Erfahrung machen, von der wir uns im Podcast begeistern lassen dürfen. Unbedingt reinhören! Denn die konkreten Ergebnisse und Ahnungen dieses Experiments sind genau das, was wir in dieser unsicheren Zeit, nicht nur während Corona, brauchen.

„Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Beschleuniger für die Verbesserung unserer Gesellschaft, weil es den Hebel nicht im Außen ansetzt, sondern im Kern der Menschen etwas verändert.“

Veränderung in der Vergangenheit kam oft mit Gewalt einher. Und wenn es in unserem Wirtschaftsleben auch nicht mehr körperliche Gewalt ist, so ist es doch für viele ein äußerer Druck, der sie zur Veränderung zwingt.

Doch was ist, wenn es kein Druck ist, sondern ein Wollen, und wenn es nicht von außen kommt, sondern von innen? Wenn sich Unternehmen verändern, weil Menschen sich ändern wollen? Wenn sich Gesellschaften ändern, weil sie sich ändern wollen? Und wenn es nicht nur wenige sind, sondern immer mehr? Was würdest du tun, wenn du bedingungslos genug zum Leben hättest? Und haben wir nicht jetzt schon die Möglichkeit, genau das zu tun? Immer etwas mehr, nach und nach? Betrachten wir noch eine andere Seite des Geldes: die der Geldanlage:

Es rentiert sich: Verantwortungsbewusstsein

Einen verblüffenden Gleichklang zwischen unserer Verantwortung als Gesellschaft und wirtschaftlichem Kalkül zeigt sind aktuell in den Kursen unserer Geldanlagen. Während sowohl der deutsche Aktienindex DAX und der weltweite Index MSCI noch deutlich im Minus sind, haben sich viele ethisch-ökologische Fonds bereits erholt. Ein Beispiel ist der Green Effects, der den Naturaktienindex abbildet, oder der Ökovision Classic, einer der ältesten nachhaltigen Investmentfonds. Beide Investmentfonds wurden in den 1990er Jahren aufgelegt – zu einer Zeit, in der ein BWL-Studium der Bankbetriebslehre absolviert werden konnte, ohne auch nur einmal die Worte Ökologie, Ethik und soziale Verantwortung zu hören. Nun mag die unterschiedliche Entwicklung auch einer abweichenden Branchen- und Regionenverteilung geschuldet sein, doch immer mehr Studien legen den Schluss nahe, dass verantwortungsbewusstes Investieren zu einer Verringerung der Schwankungsbreite führt. Seitdem die europäische Bankenaufsicht 2018 von den Banken die Offenlegung ökologischer, sozialer und die Unternehmensführung betreffender Risiken (ESG: Environment, Social, Governance) beschlossen hat, erfährt das Thema „nachhaltige Geldanlagen“ nun vermehrt Aufmerksamkeit. Studien und die aktuelle Krise zeigen: Verantwortungsbewusstsein rentiert sich aus jedem Blickwinkel. Wir haben also auch ohne den Einsatz unserer Kreativität wachsende Möglichkeiten, um gegen die Ungleichheit aktiv zu werden. Doch was ist, wenn finanzieller Einfluss und kreatives Engagement zusammenkommen?

Was wäre, wenn jeder seine Ideen für so wichtig hält, dass er anderen davon erzählt und die besten davon verwirklicht?

Wollen wir so weitermachen wie bisher? Warten wir auf die nächste verheerende Pandemie?

Oder wagen wir es und tragen mit Tatkraft und kreativen Ideen zu einer lebendigen Gesellschaft bei?

Dann könnten wir sagen: „Das gab es noch nie!“ Oder?